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Toxisches Twitter: Empathie, Empörung, Eskalation

Wir zur Lage der Kommunikation – alles tbd. Heute: Dirk Benninghoff über den eskalierenden Twitter-Ton.

Dirk Benninghoff

Dirk Benninghoff

Chefredakteur

Eigentlich ging es Karin Prien nur um eine Präposition. Nun sind aber im Corona-Zeitalter „mit“ und „wegen“ keine Füllworte mehr, über die man einfach hinwegliest. Schon gar nicht auf Twitter. Und so löste ein Kommentar der schleswig-holsteinischen Bildungsministerin eine Empörung aus, die exemplarisch für eine Plattform steht, die immer mehr ins Toxische abdriftet.

„Bitte differenzieren: Kinder sterben. Das ist extrem tragisch. Aber sie sterben mit COVID_19 und nur extrem selten wegen COVID_19,“ hatte die CDU- Ministerin auf einen Tweet geantwortet. Und löste damit einen Orkan aus, der mit Shitstorm fast schon niedlich beschrieben wäre und an dessen Ende die Politikerin ihren Twitter-Account abgemeldet hatte. Unerbittlich richtete die No- oder Zero-Covid-Fraktion über ihren „menschenverachtenden Unsinn“. Mit allerhand Hass-Vokabular wurde über „fehlende Empathie“ gepöbelt. Früh war klar, worauf es hinausläuft: #prienruecktritt . Die Hetze traf aber nicht nur Prien, sondern auch ihre Kritiker:innen, die von der Gegenseite angegangen wurden. Eine für Twitter typische Eskalation.

Bei Unions-Politiker:innen wird auf Twitter generell gerne die Rücktrittskeule geschwungen. Mit gutem Gespür für Herzchen und Retweets (und dem Drang danach) vergreifen sich auch gerne Journalist:innen am Rücktritts-Hashtag. Dass Hendrik Streeck dann noch den Prien-Tweet herzte, war das Tüpfelchen auf dem Eskalations-i. Der Bonner Virologe wurde schon auf Twitter mal mit #sterbenmitstreeck  gewürdigt, weil er einen weniger rigiden Ansatz zur Corona-Bekämpfung verfolgt. Auch er angeblich ein empathieloser Menschenverachter.

Twitter lebt mittlerweile von Eskalation, Meinung, Empörung, Gegenrede und Verteidigung.

Dirk Benninghoff, Chefredakteur

Twitter lebt mittlerweile von Eskalation, Meinung, Empörung, Gegenrede und Verteidigung. Informative Texte, gar Recherchiertes wird in der Regel weit weniger geteilt und gelikt. Diskussionen enden kaum versöhnlich. Der gute Ton ist rechthaberisch und der weiße Vogel hat mächtig Krawall im Blut. „Linksgrünversifft“ gegen Rechts, die „Extrem-Achtsamkeits-Fraktion” gegen die „Menschenfeinde“. Journalist:innen hauen Thesen raus, die sie in ihrem Medium nie veröffentlichen würden, und neulich feuerte gar ein Arbeitgeber eine Führungskraft öffentlich auf Twitter . Diese Entwicklung ist bedauerlich, weil die Plattform ein Quell herrlicher Ironie, interessanter Ansichten und überraschender Informationen war. Und weil das 280-Zeichen- (besser noch 140) Prinzip häufig verbale Kunstwerke schuf und noch immer schafft. Nur finden sich heute immer mehr ausufernde Threads statt präziser Pointen. Nutzer rühmen sich damit, von anderen geblockt zu werden oder posten Screenshots von Beschwerden. Trophäen der Ablehnung. In so einem Umfeld fällt es Twitter natürlich schwer, für einen neuen, konstruktiveren Geist zu sorgen.

Ist LinkedIn die bessere Alternative?

Für viele Marken und Unternehmen stellt sich daher die Sinnfrage. Ihrer Twitter-Präsenz fehlt häufig ohnehin Reichweite, Herzchen werden, abgesehen von Love Brands wie Netflix , oft eher spärlich verteilt, Retweets sind für viele Accounts Ausnahmen. Man erreiche einzelne Zielgruppen hier so gut, heißt es immer wieder. Aber auch Journalist:innen sind mittlerweile auf LinkedIn. Das Job-Netzwerk, längst ein eigenes Medium, ist sozusagen der Gegenentwurf zu Twitter: Was dort an „Bad Vibes“ zu viel, ist auf LinkedIn zu wenig. Banale Begebenheiten werden abgefeiert. „Thrilled“ ist der durchgehende Gefühlszustand vieler Nutzer, so der Eindruck.

Doch lieber zu viel Sonnenschein als andauernd nur Regen. So werden auf LinkedIn schon mal offene Fragen gestellt, um eine Diskussion anzuregen. Auf Twitter längst nicht mehr ratsam. Da die Zeichenbegrenzung fehlt, gehen Postings auf LinkedIn zudem in die Tiefe. Marken und Unternehmen legen zunehmend Wert auf den Kanal, und das ist ratsam. Zurück auf Twitter bleibt die Empörung. Vielleicht sollte Katrin Prien einfach umziehen.

Über den Autor

Dirk Benninghoff ist nicht nur Chefredakteur bei fischerAppelt, sondern auch Podcast-Monster . Nach 20 Jahren im Mediengeschäft (u. a. BILD, Financial Times Deutschland und stern) entschloss er sich 2016, die Seiten zu wechseln. Unser @neuigkeitenchef  hat das nie bereut.